Unternehmen zu steuern bedeutet immer auch Kennzahlen zu verstehen und zu analysieren. Zahlen lügen nicht. Wer seine Zahlen kennt, blickt auch tief ins Unternehmen. Doch ein Aspekt lässt sich schwierig abbilden: der immaterielle Wert aller Beziehungen, oder, noch konkreter: der Qualität der Beziehungen. Sind die Mitarbeiter hoch motiviert oder haben sie innerlich gekündigt?
Sind die Lieferanten wohlwollend oder fehlt nur noch ein Tropfen zur Eskalation? Beziehungen sind keine „Soft Skills“, sondern Unternehmenswertfaktoren. Sie beeinflussen die Resilienz, Innovationskraft und die Fähigkeit eines Unternehmens, Wandel auszuhalten. Vertrauen hat einen Wert, der Aufbau kostet Ressourcen und dieser Wert kann potenziell auch vernichtet werden. Wo Kommunikation gelingt und Konflikte konstruktiv gelöst werden, sinkt auch der Ressourcenabfluss. Kurz: Gute Beziehungen zahlen direkt auf den Unternehmenswert ein – und schlechte ziehen ihn ebenso direkt nach unten. Diese Erkenntnis führt zu einer zentralen Frage: Wenn Beziehungen einen Wert haben, wer schützt, pflegt und gestaltet diesen Wert?
Kommunikation als permanenter Konflikt
Die intuitive Antwort lautet: Führung. Doch damit ist nicht die klassische Rolle eines Vorgesetzten gemeint, der einfach nur Entscheidungen trifft. Moderne Führung ist ein Beziehungsauftrag. Und dieser Auftrag beginnt mit einer Einsicht, die unbequem, aber essenziell ist: Kommunikation ist immer potenziell konfliktbehaftet. Mediatoren gehen davon aus, dass jeder Mensch eine eigene subjektive Wirklichkeit entwickelt. Konflikte sind daher kein Betriebsunfall, die es zu vermeiden gilt, sondern sie sind die Regel. Kommunikation beinhaltet immer einen Konfliktanteil. Dieser muss beobachtet und verhältnismäßig eingedämmt werden wie nachwachsendes Unkraut. Genau hier verändert sich die Rolle der Führungskraft. Sie wird vom Entscheider zum Beziehungsarchitekten und Vermittler.
Eine Führungskraft, die – in Anlehnung an die Mediation – „mediativ“ denkt, erkennt Konflikte nicht erst, wenn sie eskalieren. Sie erkennt sie bereits dort, wo sie entstehen und reifen: in der täglichen Kommunikation. Und sie versteht diese Konflikte nicht als Bedrohung, sondern als Hinweis. Denn Konflikte sind Daten – sie zeigen, wo Erwartungen auseinanderfallen, wo Ziele kollidieren oder wo Zusammenarbeit unklar ist.
Die wenigsten Führungskräfte geben einer Beziehung einen Wert, obwohl dies hilfreich wäre. Wenn man nämlich darüber nachdenkt, merkt man, wie erschreckend hoch diese Werte anzusetzen wären. Die Beziehung zu dem Mitarbeiter, der mit allen Abläufen vertraut ist und fast jeden Kollegen vertreten kann, wie ließe sich diese bewerten? Mit dem Wiederbeschaffungswert? Wir reden dann sicherlich von fünfstelligen Beträgen. Oder die langjährige Beziehung zu einem Geschäftspartner? Man kennt die gegenseitigen Bedürfnisse, hat Zeit miteinander verbracht und Wissen aufgebaut. Der Wert geht weit über die Kosten der Akquise, Bewirtung und in der Vergangenheit versendeten Weihnachtsgrußkarten hinaus.
Auch hier könnte man mit guten Gründen fünf- oder sechsstellige Beträge ansetzen, auch wenn es unüblich ist, jede Beziehung einzeln zu bilanzieren. Im Konfliktfall wird dieser Wert gern ignoriert. Der Worst-Case – der Verlust des vollständigen Beziehungswertes – wird nicht von jeder Führungskraft ausreichend berücksichtigt. Im Privaten ist es übrigens nicht anders: Wie häufig schon endeten langjährig aufgebaute Beziehungen aufgrund eines möglicherweise unnötigen Konfliktes?
Die Führungskraft als permanenter Mediator
Wie aber lässt sich eine solche Führungskultur, die Beziehungswerte schützt und aufbaut, systematisch verankern? Die Antwort liegt in einem Konzept, das aus der Psychologie stammt, aber für moderne Organisationen überraschend präzise passt: die therapeutische Allianz. Mit der therapeutischen Allianz ist das Arbeitsbündnis zwischen Therapeut und Klient gemeint – getragen von Vertrauen, dem gemeinsamen Ziel und klaren Rollen. Der Biologe und Hirnforscher Gerhard Roth fand heraus, dass keine der Kernthesen für die behauptete Wirksamkeit unterschiedlicher, in den letzten Jahrhunderten entwickelter psychotherapeutischer Verfahren neurowissenschaftlich vollständig haltbar sei. Die „therapeutische Allianz“ war der einzige wissenschaftlich nachweisbare Einfluss auf den Erfolg einer Therapie.
Wenn es gelingt, dass der Patient Vertrauen zu seinem Therapeuten aufbaut und daran glaubt, dass der Therapeut ihm helfen kann, dann ist ein Erfolg der Therapie möglich. Andernfalls sinkt die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges deutlich. Die Verfahren, die zur Anwendung kamen, waren zweitrangig. Mit anderen Worten: Der Therapieansatz ist egal, wenn sich Therapeut und Klient in einer gemeinsamen Allianz sehen.
Die Führungsallianz
Übertragen auf Unternehmen entsteht daraus die Führungsallianz: ein Verständnis von Verhältnis zwischen Führungskraft, Mitarbeitenden und anderen relevanten Personen, das auf Transparenz, Vertrauen und Verlässlichkeit basiert. Eine solche Allianz schafft die Grundlage dafür, dass Konflikte offen verhandelt, Unsicherheiten angesprochen und Entscheidungen nachvollzogen werden können. Sie ist der soziale Raum, in dem Beziehungen stabil werden – und damit der Raum, in dem Wert entsteht. Doch eine Allianz bleibt abstrakt, solange sie keine methodische Basis hat. Hier kommt die mediative Denkweise ins Spiel, wie sie etwa im Harvard-Konzept verankert ist. Es unterscheidet klar zwischen Positionen und Interessen. Das zeigt ein klassisches Beispiel aus der Mediation: Zwei Schwestern streiten sich um die letzte Orange. Der intuitive Kompromiss wäre, die Orange zu halbieren. Doch die Frage nach den zugrundeliegenden Interessen macht eine bessere Lösung möglich: Die eine braucht die Schale für einen Kuchen. Die andere braucht den Saft für ein Getränk. Das Ergebnis ist ein Konsens: Die eine erhält die gesamte Schale, die andere den gesamten Saft. Beide bekommen mehr, als es ein Kompromiss erlaubt hätte.
Was in diesem simplen Beispiel sichtbar wird, ist der Kern moderner Führung: Wer Positionen verhandelt, verliert Wert. Wer Interessen erkennt, vergrößert ihn. Das gilt für zwischenmenschliche Konflikte, für Entscheidungen im Team und für strategische Abstimmungen gleichermaßen.
Die Führungsallianz erweitert diesen Gedanken: Sie schafft den stabilen Rahmen, in dem Interessen überhaupt sichtbar werden können. Und die mediative Haltung der Führungskraft sorgt dafür, dass sie gehört, verstanden und in produktive Lösungen übersetzt werden. Diese Haltung macht Führung nicht weicher, sondern wirksamer. Sie verschiebt den Fokus von Machtausübung zu Verständigung, von Reaktion zu Prävention, von Positionen zu Interessen. Führung wird damit weniger zum Durchsetzen und mehr zum Ermöglichen. In einer schwierigen Wirtschaftslage und einer Arbeitswelt, die auf Effizienz und Zusammenarbeit angewiesen ist, ist das kein Idealismus, sondern eine wirtschaftliche Notwendigkeit.
Mediative Führung ist damit kein Soft-Skill-Romantizismus, sondern ein Business Case: Sie schützt die wertvollste Ressource des Unternehmens – die Beziehungen. Und genau dadurch steigert sie langfristig dessen immateriellen Wert.
Zum Autor:
Der Autor dieses Artikels Nickolas Emrich ist Wirtschaftsjurist, ehemaliger Unternehmer, SPIEGEL-Bestseller-Autor und zertifizierter Mediator.
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